Jeder ist ein Künstler! Oder: Kunst als Prototyping.
Offenbar hat die Menschheit sich immer schon mit Kunst beschäftigt. Wie aber passt das unserer gegenwärtigen Praxis zusammen, die Künstler von nicht-Künstlern (also Zuschauer, Zuhörer, Publikum) unterscheidet? Im nachfolgenden Text entwickle ich ein philosophisches Argument für den von Joseph Beuys geäußerten Anspruch "Jeder ist ein Künstler!" und plädiere dafür, dass es uns allen gut täte, diese Unterscheidung aufzugeben und uns - so aktiv wie möglich! - den Künsten zuzuwenden.
Der folgende Text ist die gekürzte Fassung - eine Art ausführliches Abstract - einer längeren Arbeit, die hier verfügbar ist: Kunst als Prototyping (PDF)
1 Einleitung
"Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da,
sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen.
Daß diese sie etwas zu lehren haben, kommt ihnen nicht in den Sinn."(1)
Wie halten wir es in unseren täglichen Vollzügen mit den Künsten? Normalerweise schweigt das Publikum, wenn der Künstler, die Künstlerin vorträgt, malt oder musiziert. Verschenken wir in dieser funktionalen Rollenverteilung Potential? Und wenn ja: welches? Um diese Frage zu beantworten, rekonstruiere ich in Abschnitt 2 Kunst als Kult die weit verbreitete Praxis, Kunst zu sakralisieren. In Abschnitt 3 Kunst als Praxis untersuche ich alternative Herangehensweisen, die sich etwa seit den 1970er Jahren entwickelt haben und Kunst als gemeinschaftliches Handeln verstehen. In Abschnitt 4 Kunst als Dialog prüfe ich, inwieweit philosophische Konzeptionen über den Menschen, wie sie beispielsweise in der philosophischen Anthropologie entwickelt werden, den in Abschnitt 3 vorgestellten Ansatz argumentativ stützen. In Abschnitt 5 Kunst als Prototyping ziehe ich ein Fazit und rege weiteres Vorgehen an.
2 Kunst als Kult: Eine kritische Rekonstruktion
Wohin gehen wir eigentlich, wenn wir ein Museum betreten? Wir sind an einem besonderen Ort, zweifellos.
2.1 Orte der Kunst: Museum und White Cube als Kirchen der Ästhetik
Die Idee des Museums geht auf zwei wirkmächtige Diskurse des 18. Jahrhunderts zurück: die Emanzipation und Autonomisierung der Kunst und die Verquickung von religiösen Bedürfnissen, kunst- und literaturtheoretischen Reflexionen und religionskritischen Einsichten. Kirche und Museum weisen heute eklatante Ähnlichkeit auf, z. T. spricht man gar vom Museum als Ritualstätte; die Konzeption des Museums als Kultraum wurde inzwischen auch in der zeitgenössischen Ausstellungspraxis übernommen.(2) (3) (4)
2.2 Objekte der Kunst: Sakralisierung als lokale Konvention
Worum geht es in der Kunst? Um diese Frage zu beantworten, greifen Kritiker*innen, Essayist*innen und auch Künstler*innen häufig immer noch auf eine metaphysische Hypothese zurück, die ursprünglich aus der Romantik stammt und die Erfindung einer Handvoll von Denkern ist. Die genaue Argumentation beruht auf einer Reihe von Missverständnissen und ist inzwischen längst in Vergessenheit geraten, die Theorie hat aber immer noch schädliche Folgen für unseren Umgang mit Kunst, weil sie Kunstwerke hermetisch abschottet und uns das Vergnügen am Umgang mit Kunst austreibt. Eine Neuorientierung unseres Denkens über und unseres Umgangs mit Kunst erscheint daher angebracht.(5) (6) (7)
2.3 Vermittlungsaufgaben der Kunst: Verkündigung, Bildung, Wahrheit
Vermittelt Kunst eigentlich Wissen? Diese Frage findet unterschiedliche Antworten. Kunst steht in einer langen Tradition didaktischer Vermittlung, die aber nicht notwendigerweise exakter Repräsentation bedarf. Allerdings steht inzwischen der Wahrheitsbegriff selbst in Frage; Lösung bieten Kunstwerke, die nicht länger vordergründig richtige Antworten liefern, sondern stattdessen Fragen aufwerfen, auf die die jeweiligen Rezipient*innen ihre eigenen Antworten finden müssen. In diesem Sinne ist man inzwischen auch dazu übergegangen, kritisch über öffentliche Institutionen nachzudenken und die Bedeutung von Bildung zu hinterfragen, bzw. danach, was genau im Museum gezeigt wird, warum und für wen.(8)
2.4 Protagonisten der Kunst: hohepriesterliches Prekariat
Die meisten Kunstschaffenden leben und arbeiten heute trotz des hohen Prestiges, das ihre Tätigkeit mit sich bringt, zumeist in prekären Verhältnissen. Vielleicht sind dieses Prestige, sowie die auf der o.g. metaphysischen Hypothese beruhende religiöse Konnotation ihres Tuns bzw. ihrer Werke Motivationsstrategien, die sie ihre Selbstausbeutung weiter betreiben lassen.
2.5 Fazit
Kunst ist ein Ort der Sinnstiftung, an dem das Gewebe unserer Kultur durch Kulturschaffende weiter gewoben wird, ein Bedeutungsgeflecht, das Menschen ihre Erfahrungen interpretieren und ihr Handeln ausrichten lässt. Ein Geflecht, auf das sie als instinktreduzierte Mängelwesen notwendigerweise angewiesen sind. Allerdings werden diese Deutungsangebote faktisch und inhaltlich unter Ausschluss einer breiten Öffentlichkeit entwickelt, eine bisher kaum zur Kenntnis genommene Machtassymetrie, die erst in letzter Zeit kritisch hinterfragt wird.(9) (10)
3 Kunst als Praxis: Aktuelle Erprobungen
Unser Umgang mit Kunst und Kultur wird inzwischen vielerorts freier und findet zu Formen, die einem aktualisierten, veränderten Menschen- und Gesellschaftsbild angepasst sind: Handlungspraktiken, durch die Menschen in Selbstausdruck und Antwort Weltorientierung und Selbstverortung entwickeln.
3.1 Weltorientierung: Vermittlungsarbeit im Museum
Museen haben heute einen konkret formulierten Bildungsauftrag, auf den sie als Orte des Authentischen und Realen antworten, und Menschen so besondere Erfahrungen ermöglichen. Diese Art der Kunst als Praxis stellt hohe Anforderungen an die in der Vermittlung Tätigen: neben einer starken Handlungsorientierung machen museumspädagogische Konzepte inzwischen z. T. auch neueste Forschungsergebnisse zugänglich, z. B. aus den Postcolonial Studies. Damit referieren sie im Sinne John Deweys auf eine Didaktik des Lernens durch konkretes Erfahren und Tun.(11) (12) (13)
3.2 Selbstverortung: Emanzipation im Spannungsfeld
Kulturelle Bildung fördert das Individuum auf zweifache Weise: sie bietet Weltorientierung wie auch Selbstverortung innerhalb des Weltgefüges, und verfolgt dabei gemeinschaftsfördernde und auch emanzipatorische Ansätze.
3.2.1 Community Music: Polyphoner Einklang
Community Music ist ein Beispiel für gemeinschaftsfördernde Ansätze in der kulturellen Bildung. Hier stehen pädagogische Ideale wie Inklusion, kulturelle und soziale Teilhabe und soziale Gerechtigkeit gleichwertig neben musikalischen (bottom-up) Bildungszielen. Der Bereich ist durch ein hohes Maß an Interdisziplinarität auf verschiedenen Ebenen (Kooperation mit anderen Kunstformen, multidisziplinären Teams) geprägt. Community Music ist bisher v. a. in den angelsächsischen Ländern etabliert, in Deutschland hingegen noch weitgehend unbekannt.(14)
3.2.2 Theaterarbeit: Balanceakt zwischen Individuum und Gruppe
Der emanzipatorische Ansatz kultureller Bildung steigert nicht nur Gemeinschaftssinn und Zugehörigkeit, sondern stärkt idealerweise auch das Individuum selbst, sodass es selbstbewusst in die Aushandlungsprozesse mit anderen treten kann. Als Beispiel für künstlerisch-pädagogisches Handeln, das Demokratie ohne strikte Konsensorientierung denkt, sei die Devising Performance genannt, ein Format, bei dem ein Stück ohne dramatische Vorlage von der Gruppe selbst entwickelt wird. Diese Form der radikaldemokratischen Theaterarbeit stellt Gewissheiten und Machtdispositive in Frage, verweigert sich Erwartungen und fordert Auseinandersetzungsbereitschaft ein. Binnenstruktur der Gruppe und künstlerisches Ergebnis sind aufeinander verwiesen, eine künstlerische Praxis, die so auch politische Relevanz gewinnt.(15) (16)
3.2.3 Protagonisten der Kunst: der Künstler als Koordinator
Projekte wie die oben genannten stellen hohe Anforderungen: Diversität, Differenz, vielleicht sogar Dissens brauchen Raum, zugleich sollte trotz aller Verschiedenheit eine gemeinsame künstlerische Form gefunden werden. Protagonist*innen, die derartige performative Prozesse anleiten, müssen bereit sein, sich selbst zurückzunehmen und das Geschehen den Teilnehmer*innen zu überlassen. Neben einem hohen Maß an Sensibilität, pädagogischen und künstlerischen Fähigkeiten ist auch Fachwissen gefordert, um das entstehende Material kulturell bzw. politisch zu kontextualisieren, denn nur so kann eine derartige Arbeit tatsächlich ihr volles Potential ausschöpfen.(17)
3.3 Aktuelle Diskurse im Bereich Kunst, Kultur und Kulturelle Bildung
Die aktuellen Diskurse des Bereichs betreffen u.a. die besondere historische Situation und Entwicklung Deutschlands, die gemeinschaftlich ausgeführte Kunstformen bis heute prägen und deren Rezeption färben. Ein weiterer Diskursstrang beschäftigt sich mit gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen, also der Frage, unter welchen Bedingungen ein inklusiver, diskriminierungsfreier Zugang zu kultureller Bildung und ästhetischer Erfahrung gewährleistet werden kann. Ferner wird in der aktuellen Debatte der Frage nachgegangen, wo die Grenze zwischen Kunst und Sozialarbeit zu ziehen ist. Während die soziale Arbeit schon lange ein kulturelles Mandat hat, ist das inzwischen offensiv formulierte soziale Mandat der Kulturarbeit relativ neu. Für die Politik ergibt sich daraus der Auftrag, neben der Bereitstellung finanzieller Mittel auch kooperative und nachhaltige Beteiligungs- und Steuerungsstrukturen zu entwickeln, in Bezug auf die Projektarbeit selbst besteht erheblicher Professionalisierungs- und Forschungsbedarf.(18) (19) (20)
3.4 Fazit
Unser Umgang mit Kunst hat sich ganz offensichtlich verändert, das Kunstgeschehen ist dialogisch geworden, der Fokus ist vom Kunstwerk zum Prozess gewandert, ein Prozess, der das Individuum in den Mittelpunkt stellt und das Potential hat, die Akteure, ja die ganze Gesellschaft zu verändern. Neben den erforderlichen strukturellen Anpassungen im Sinne einer nachhaltigen Koordination und Steuerung sollte den genannten Veränderungen auch im Rahmen von wissenschaftlichen Forschungsprojekten und konkreten Professionalisierungsmaßnahmen Rechnung getragen werden.
4 Kunst als Dialog
Offenbar vollzieht sich gerade ein Paradigmenwechsel in unserem Umgang mit Kunst. Kunst als Kult und Kunst als Praxis existieren momentan nebeneinander, allerdings haben sie sich zum Teil Legitimationsfragen zu stellen, wie sie beispielsweise durch das Phänomen der Nicht-Besucher*innen kultureller Angebote aufgeworfen werden. Ein ähnlich gelagertes Phänomen - vorhandene Angebote ohne Nutzer - existiert momentan innerhalb des Medizinsystems, das sich trotz seines technisch hochentwickeltem Instrumentariums immer öfter mit unerhörten Kranken ohne empirischen Befund konfrontiert sieht, die es nicht heilen kann. Wie geht die Medizin mit dieser Herausforderung um?(21)
4.1 Von der Erkenntnis zur Handlung
Kunst als Kult und Kunst als Praxis sind zwei unterschiedliche Sichtweisen auf ein einziges Phänomen: das der Kunst. Ähnliches - zwei verschiedene Sichtweisen auf ein einziges Phänomen - gibt es in der Medizin. Diese galt lange als theoretische Wissenschaft, die sich mit allgemeiner Erkenntnis über Krankheit befasst; erst in letzter Zeit hat sich ein Wandel im Selbstverständnis ärztlichen Tuns vollzogen, nämlich jener hin zu einer Handlungswissenschaft, die sich mit dem singulären Einzelfall des erkrankten Menschen beschäftigt. Die Folge dieses Wandels zeigt sich in der psychosomatischen Medizin: Der Patient tritt als autonomes Subjekt dem Subjekt des Arztes gegenüber, das Handeln wird gemeinsam, inter-subjektiv, zwischen-leiblich, zu einem kooperativ-kommunikativen Prozess.(22)
4.2 Individuum und Umwelt
Wie wir gesehen haben, stellt Kunst eine Möglichkeit dar, Weltorientierung und Selbstverortung zu entwickeln. Innerhalb der bio-semiotischen Wende in der Humanmedizin stellt die Theorie vom Situationskreis einen Meilenstein dar. Diese Theorie beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie die Relation zwischen dem einzelnen Individuum und seiner spezifischen Umwelt zu denken ist und stellt fest, dass dem faktischem Handeln in der Welt - Umgang mit der Welt – Bedeutungsunterstellung und -erteilung im Rahmen eines imaginativen Probehandelns vorausgeht.
In der konkreten Anwendung dieser Theorie in den Humanwissenschaften spielen drei aus philosophischer Anthropologie und Phänomenologie vertraute Konzepte eine wichtig Rolle: Passung - Responsivität - Mentalisierung.(23) (24) (25) (26) (27) (28)
4.2.1 Passung
Passung ist ein grundlegendes Funktionsprinzip lebender Systeme, dessen Ziel das Zusammenwirken von Individuum und Umwelt im Sinne eines interaktiven Abstimmungsprozesses ist. Gelingt die Abstimmung, spricht man in der Medizin von Gesundheit, gelingt sie nicht, verweisen Symptome auf Anpassungsstörungen. In diesem Sinne besteht die Aufgabe des Arztes darin, den Dialog zwischen dem Patienten und seiner Umwelt wieder zu etablieren und dadurch Gesundheit zu fördern.(29)
4.2.2 Responsivität
Passung kann gelingen, wenn das Individuum ansprechbar, offen, responsiv ist. Symptome sind in dieser Betrachtungsweise nicht Zeichen für Krankheit, sondern Antworten, die sich mangels Responsivität einseitig an den Bedürfnissen, Wünschen oder Erwartungen des Individuums selbst orientieren. Responsivität wird auch als eine Form von Bezogenheit beschrieben, die das gesamte leibgebundene Verhalten prägt und die Fähigkeit voraussetzt, neben den eigenen auch die Bedürfnisse und Erwartungen anderer wahrzunehmen.(30) (31) (32)
4.2.3 Mentalisieren
Die Fähigkeit zu Mentalisieren eröffnet dem Individuum Zugang zur eigenen und zur fremden Wirklichkeit. Mentalisieren bedeutet, eigenes und fremdes Verhalten und Erleben durch Zuschreibung mentaler Prozesse zu fassen und zu verstehen, in einem metakognitiven Prozess innere Distanz zum Geschehen bzw. Erleben zu gewinnen und die Perspektive zu wechseln. Die Fähigkeit zu Mentalisieren ist nicht angeboren, sondern entwickelt sich erst im Lauf der Kindheit. Dieser Prozess kann durch ungünstige Umstände gehemmt bzw. erschwert werden, ebenso kann Traumatisierung eine bereits entwickelte Mentalisierungsfähigkeit beeinträchtigen.(33) (34)
4.2.4 Fazit
Passung, Responsivität und Mentalisieren bilden die Grundlage dafür, dass ein Individuum erfolgreich mit seiner Umwelt interagieren kann: Passung bezeichnet den gelingenden Abstimmungsprozess, der Responsivität voraussetzt und Mentalisierungsfähigkeit erfordert. Symptome sind Hinweise auf Anpassungsstörungen und in jedem Fall bestmögliche Antworten des Organismus angesichts der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten.(35) (36)
4.3 Vom Probehandeln zum Prototyping
Kunst hat eine lange Tradition in der Behandlung von leiblichen wie auch seelischen Störungen. In der wichtigsten institutionellen Therapieform, der Kunsttherapie, geht es darum, die eigene innere Welt zu erforschen, im durch das Kunstwerk geformten Schutzraum neue Spiel- und Handlungsräume zu erschließen und greif- und dadurch be-greifbar neue Lösungsmöglichkeiten - Prototypen - spielerisch zu erproben.
Kunstschaffen ist in diesem Sinne ein Probehandeln in konkretem, faktischem Tun im dreidimensionalen Raum, häufig auch inter-subjektiv. Vielleicht liegt genau hier der allgemeine Wirkfaktor, der den künstlerischen Prozess zum Heilmittel werden lässt.(37) (38)
4.4 Risse und Löcher im kulturellen Gewebe
Unsere (Um-)Welt wird immer unübersichtlicher, für viele Individuen ist die Passung brüchig geworden. Der Passungsverlust zeigt sich in Symptomen von Flucht und Kampf: Rückzug und Abschottung bzw. Aggression, Fundamentalismen, Nationalismen. Auffällig ist, dass gerade Menschen, die traumatisierende Erfahrungen machen mussten, häufig anfällig für scheinbar einfache Lösungen sind, trotz dieser Erfahrungen - oder vielleicht gerade wegen dieser Erfahrungen? Wenn gelingende Passung der Responsivität und des Mentalisierens bedarf, dann ist Traumatisierung definitiv ein Risikofaktor: Wessen Fähigkeit, eigene und auch fremde innere Zustände mentalisieren, also erfassen und verstehen zu können, auf dramatische Weise durch traumatische Erfahrung blockiert ist, dem wird es schwerfallen, sich dem Anderen responsiv zu öffnen, um auf diese Weise in Passung zu kommen. Einfache Lösungen wie die diversen Ismen sind hier Ersatzgefüge: Krücken, mit deren Hilfe man sich mühevoll, ungelenk, und vielleicht auch zerstörerisch durch die Welt manövrieren kann.(39) (40)
4.5 Das Netz neu weben
Wie kann dort, wo Passung verloren gegangen ist, wo das kulturelle Bedeutungsgewebe brüchig geworden ist, ein intrapersonales, identitätsstiftendes Netz neu entstehen? Sicherlich nicht mit Hilfe einer verpflichtenden Leitkultur, eher schon in Form von persönlicher Erfahrung, dialogischer, polylogischer Auseinandersetzung, Austausch, Kontakt, gemeinsamer Handlung zusammen mit anderen Menschen, einem Prozess, an dessen Ende, vielleicht, quasi als Erinnerung, ein Kunstwerk steht? Ein gemeinsam entwickelter Prototyp, der bezeugt, dass sich die Handelnden darin gemeinsam neu erschaffen haben...
4.5.1 Eine erste Vernetzung: Responsivität und Mentalisieren
Responsivität und die Fähigkeit zum Mentalisieren sind zweifach aufeinander verwiesen: Damit Menschen mentalisierungsfähig werden, brauchen sie ein responsives, einfühlsames Umfeld. Und erst wenn sie die Fähigkeit zum Mentalisieren erworben haben, also eigenes und fremdes Erleben und Verhalten durch Zuschreibung mentaler Inhalte interpretieren zu können, sind sie befähigt, anderen responsiv zu antworten. Bindungsunsicherheit und Traumatisierung beeinträchtigen Mentalisierung und damit Responsivität.(41) (42)
4.5.2 Die zweite Vernetzung: der Künstler als Zuhörer
Normalerweise hört das Publikum dem Künstler, der Künstlerin zu, dabei gerät jedoch leicht aus dem Blick, dass Künstler selbst Hörende sind: Kunstschaffende hören auf ihr eigenes Inneres, sind offen für (fremde) Partialwelten in Form eines Werks, das sie interpretieren, und durchlässig für die allem zu Grunde liegende Einheitswirklichkeit. Anders ausgedrückt: Künstler*innen sind Menschen mit besonderen Fühlern, feinen Antennen für fremde mentale Inhalte eines realen oder imaginierten Gegenübers. Diese Fähigkeit teilen sie mit Ärzt*innen, die im Zuhören zu Co-Konstrukteur*innen im Erkenntnisprozess ihrer Patient*innen werden, ein derzeit vielfach noch unterschätzter Aspekt.(43) (44) (45) (46) (47)
4.5.3 Die dritte Vernetzung: Kunst als Praxis - als heilsamer Prozess für den Passungsverlust (eine Krankheit ohne Diagnose)
Kunsttherapie, hochwirksam, vielfach eingesetzt, wenig erforscht, hat einen gravierenden Nachteil: Sie setzt eine Diagnose voraus. Was ist, wenn der Patient sich nicht krank fühlt oder es für sein Leiden keine Diagnose gibt? Oder wenn die Pathologie sich nicht individuell sondern gesamtgesellschaftlich äußert? Wer soll dann behandelt werden - und wie?
Menschen sind wunderbare, aber auch höchst fragile Wesen. Traumatisierung und ihre Folgen begleiten die Menschheit so lange wie es Kriege, Naturkatastrophen und unglückliche Familien gibt. Ebenso alt sind Zeugnisse von Heilung, wir hüten und bewahren sie: in unseren Museen, Theatern, Konzertsälen.
Und in erhebenden Momenten heilen uns diese Kunstwerke - Sophokles‘ Ajax, Picassos Guernica, Beuys‘ Zeige deine Wunde, Bachs Chaconne, um nur einige zu nennen - noch heute, machen unsere zerbrochenen Leben wieder ganz. Das System Kunst als Kult hat also seinen Sinn. Aber es ist nur ein Notbehelf, wenn es sonst nichts gibt. Denn Heilung passiert in Gemeinschaft, in der Mitwelt, in Anrufung und Antwort, hier und heute, zwischen Menschen. Indem wir da sind, anwesend, partizipierend, Anderen, die uns zuhören, unsere Geschichte erzählen, das aussprechen, ausdrücken, was wir hören, wenn wir uns dem Angerufensein durch unsere eigene, zentrische Mitte öffnen und uns in prozesshaftem, existentiellem Handeln exzentrisch unserer selbst vergewissern. Und somit die Grenze ziehen, die uns vom Ding zum Organismus macht und uns vom traumatisierten Stumm-Sein zurückfinden lässt zur Sprache.
Für all dies bietet Kunst einen sicheren Rahmen. Alle großen Kunstwerke sind hier entstanden. Sie alle sprechen von existentieller Erfahrung, Schmerz, Trennung, Verletzung, Verlust, Tod. Erfahrungen, die Individuen verstummen ließen. Und von Transzendierung und wiedergefundener Sprache im bildnerischen Ausdruck.(48) (49) (50)
4.6 Fazit
Was zeichnet uns Menschen aus? Es ist unsere zweifache Positioniertheit, vermittelt durch die Fähigkeit zum Mentalisieren und zur Responsivität. Fähigkeiten, deren Verfeinerung kaum eine Grenze gesetzt zu sein scheint, bis sie schließlich im Grundwort Ich-Du aufgehen.
Angesichts ihrer Grenzenlosigkeit sind wir eingeladen, diese Fähigkeiten zu entwickeln bzw. manchmal, nach schmerzhaften Verlusten, sie wiederzubeleben. Kunst ist hierfür ein Übungsraum, ein sicherer Rahmen, ein Ort, an dem wir symbolisch-symbolisierend im intra- oder intersubjektiv dialogischen Prozess zur Ganzheit finden können.(51) (52) (53)
5 Fazit: Kunst als Prototyping
Wie ist nun die eingangs gestellte Frage, ob wir mit der funktionalen Rollenverteilung zwischen schweigendem Publikum und vortragendem Kunstschaffenden Potential verschenken, zu beantworten? Nimmt man die Konzeption der philosophischen Anthropologie ernst, dass der Mensch ein exzentrisch positioniertes Wesen ist und der Kultur bedarf, um sein Gleichgewicht zu finden, lautet die Antwort klar: Ja!
Kunst und künstlerische Betätigung bieten einen sicheren Raum für Selbstreflexion, ein Tun, das Menschen in ihrem individuellen So-Sein stärkt, indem sie sich in der künstlerischen Handlung in sich selbst wie auch in der Welt - eben den beiden Positionen des Menschen, der zentrischen und der exzentrischen - verorten können. Ganz offenbar muss diese Arbeit von jedem Individuum, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, selbst vollzogen werden, denn es ist nicht - oder allenfalls in sehr geringem Maße - möglich, sie vollständig an Dritte, so gut ausgebildet sie auch sein mögen, zu delegieren.
Hieraus lassen sich Anregungen für ein weiteres Vorgehen ableiten. Beispielsweise jene, die strikte Trennung zwischen Kunstschaffenden und Publikum in ein Miteinander zu überführen. In ein Miteinander von Menschen, die sich als Menschen im Gespräch auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam, im inter- oder intrapersonalen Dia- bzw. Polylog künstlerisch arbeiten. Für Künstler, die diese Art des Miteinanders als künstlerische Intervention anleiten, bedeutet dies Professionalisierungsbedarf, und zwar dahingehend, dass sie befähigt werden, Projekte der Community Art zu konzipieren bzw. durchzuführen. Und die Philosophie ist eingeladen, argumentative Begründungsstrukturen für die bereits existierenden Praktiken der Community Art zu entwickeln und darüber hinaus inhaltlich bezüglich der in der Kunst verhandelten, häufig Philosophischen Themen, den existentiellen Fragen des Menschseins, ihren Beitrag zu leisten.