VELORITO oder: "Altar für das Kunstwerk, das es nicht geschafft hat"
VELORITO ist die Verniedlichung des spanischen Wortes "velorio", das "Abendveranstaltung, abendliche Dorfvergnügen" aber auch "Beerdigung" bedeutet. Ein VELORITO ist demzufolge ein "kleines Trauerritual".
Grundüberlegung
Was hält die Menschen einander fern? Die Angst vor Verlust. Und: das Leugnen von Verlust und der Trauer darum. Man leugnet den Verlust also (und trauert natürlich auch nicht) und meint damit, so vor ihm gefeit zu sein (obwohl man tief innen eigentlich weiß, dass das nicht funktioniert.). Was wäre die Alternative? Den Verlust anzuerkennen, als reale Möglichkeit - die aber nicht zwangsläufig eintreten muss.
Ich glaube, indem man den Verlust verleugnet, erzwingt man geradezu, dass er passiert.
Installation & Happening
VELORITO ist ein spontanes Happening, eine kurzfristig verabredetes Treffen im öffentlichen Raum zur gemeinsamen Äußerung von Trauer über Verlust und/oder Misserfolg.
Ort unauffällig, im Stadtzentrum; Orte an denen
Passanten zufälligerweise vorbeikommen, z. B. auf Bürgersteigen;
auf keinen Fall Orte, die auf den ersten Blick "Kunst" vermuten
lassen
Abmessung im Kontext variabel
Objekt im Kontext ebenfalls variabel (s. "Protagonisten";
s. "Mögliche Trauerobjekte")
Material Tuch, friedhofsübliche Kerzen, Bilder
oder Symbole für das Trauerobjekt, Blumen, also alles was "klassischerweise" auf
einem Friedhof oder Grab auftaucht; persönliche Erklärungen
zum Trauerobjekt
Protagonisten Menschen, die ähnliche Verluste
oder Misserfolge erlebt haben, also ein gemeinsames "Objekt
der Trauer" haben.
Interaktion mit Passanten; symbolische Ausweitung: die Aktion geht vom spezifischen
Trauerobjekt hin zur Tätigkeit des "Trauerns" im Allgemeinen:
Trauern als eine menschlich verbindende Tätigkeit.
Zeitrahmen Happeningcharakter; Zeit für Interaktion
zwischen Protagonisten und Passanten; die Installation kann danach einfach
stehen gelassen werden, um noch einige Zeit an das Happening zu erinnern
Parallelen - menschliche Trauer im öffentlichen Raum
9-11 Altäre
Nach den Anschlägen am 11. September 2001 tauchten an verschiedenen Stellen in New York spontane "Altäre" auf, an denen vermisster Freunde oder Verwandter gedacht wurde. Diese Altäre waren offener Ausdruck von Trauer, aber auch von Mitgefühl: Menschen, die nicht selbst Angehörige verloren hatten, konnten Anteil nehmen. Bildbeispiele (1)
Diese Art des "öffentlichen Trauerns" ist für unseren Kulturkreis (Deutschland) sehr ungewöhnlich. "Trauer" findet hier fast ausschließlich auf dem Friedhof statt, und auch dort nur in einer sehr strengen, reglementierten Form: es werden kaum Gefühle der Trauer gezeigt, im Gegenteil, oft wird explizit dazu aufgefordert, "von Beileidsbekundungen abzusehen".
In der Karibik habe ich einmal eine ganz andere Beerdigung erlebt. Teilweise fand ich diesen hinausgeschrieenen Schmerz sehr erschütternd. Aber wenn man ihn, wie hier, innen vergräbt, ist das nicht schlimmer?
"Marterl"
Einen kleinen Sonderfall bilden die in Bayern verbreiteten "Marterl": hier wird häufig Angehöriger gedacht, die durch Unfall oder Unglück ums Leben gekommen sind. Der Ort des Unglücks wird zum Ort der Trauer und des Gedenkens gemacht, und unbeteiligte Passanten werden eingeladen, am Verlust teilzuhaben. Bildbeispiel (2)
Thomas Hirschhorn
Thomas Hirschhorn hat mehrmals "Kioske" oder "Altäre" für die Künstler gebaut, die ihn für ihn wichtig, beeinflussend waren. Seine Installationen sind ausführlich dokumentiert.
Diese Installationen beschäftigen sich aber tendenziell eher mit "Gedenken an" als mit "Trauer um".
Ziele & Ergebnisse
VELORITO: öffentliches Trauern als ein verbindendes - bereicherndes - befreiendes Element
Verbundenheit
VELORITO als ein gemeinschaftliches, gemeinschaftsbildendes Ritual, Trauer, Schmerz, Misserfolg zu zeigen und sich mit anderen verbunden zu fühlen: wer ist tatsächlich frei von Verlußt oder Misserfolg?
Teilen & Bereicherung
Teilen bedeutet heute für die meisten Menschen: ich gebe etwas von dem ab, was ich habe - aber weil jeder ja immer nur "Erfolg" und "Geld" hat, ist die Handlung des Teilens mit dem Gedanken an materiell Verarmung verbunden.
Würde man zugeben, dass man auch Misserfolge hat, und könnte man diese (mit-)teilen, dann hätte man ebenfalls weniger zu tragen: und zwar an Schwermut. Schmerz oder Misserfolg zu teilen verteilt die Last plötzlich auf viele Schultern. Gemeinsames Trauern befreit und erleichtert, denn wir können den "wunden Punkt" loslassen.
Vielleicht hängt das Teilen von Schmerz auch irgendwie mit dem Teilen von Wohlstand zusammen: wenn man das eine nicht kann, wird man auch das andere nicht tun?
Loslassen
Das, was wir verbergen und unterdrücken auszusprechen und mitzuteilen, setzt blockierte Teile unserer Kraft frei. Wenn wir öffentlich um etwas trauern, können wir es anschließend loslassen, und erst dann kann die Wunde heilen.
Viele Menschen sind jahrzehntelang in ihrer nicht-gelebten Trauer gefangen, es gab z. B. nie wirklich Möglichkeiten für Soldaten dem Seelenschmerz Ausdruck zu geben, den ihnen ihre Erlebnisse an den Kriegsschauplätzen verursacht haben.
Solch unterdrückter Schmerz resultiert in Menschen, deren normales Empfinden gestört ist, sie sind "anders" als früher, aber wenn man fragt erntet man nur Schweigen. Das ist eine sehr traurige Situation.
Mögliche Trauerobjekte
Den Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt. Es gibt heftige (s. oben, Kriegserlebnisse), aber für den Anfang könnte man mal mit den eher netten, lustigen anfangen:
"Kunstwerke, die es nicht geschafft haben"
...die bei fast jedem Künstler irgendwo an die Atelierwand gelehnt herumstehen; gelegentlich überlegt man ernsthaft, sie zu vernichten. Meist tut man es aber nicht. Sie gehören irgendwie zum Werk, und obwohl sie strenggenommen "Misserfolge" sind, gewinnt man sie mit der Zeit lieb, es entsteht eine vertraute Verbundenheit, denn sie haben einen so lange begleitet.
"Bilder, die es nicht geschafft haben" sind wohlweißlich Teile des Werkes, so wie Trauer auch nur ein Teil der allgemeinen Befindlichkeit des Menschen sein sollte, und nicht die alleinige. Es geht nicht darum, sich als einen erfolglosen Künstler darzustellen, sondern viel eher zu sagen "Hey, bei mir läuft es gut und ich bin zufrieden - aber auch bei mir klappen manche Dinge nicht." Misserfolg ist etwas urmenschliches - und also solches ein wunderbar verbindendes Element.
...oder aber: "Liebhaber, mit denen es nicht hingehauen hat..."
Wie wäre es mit einem alternativen Trauerobjekt, einer Runde VELORITO für all die Liebhaber, mit denen es nicht hingehauen hat? Jaja, vielleicht sollte man dieses kleine, traurige Gefühl "nicht geliebt zu sein" (was ja immer eine absolut subjektive Angelegenheit ist) etwas näher betrachten. Normalerweise behält man es ja eher für sich - und vielleicht wäre es sehr befreiend, es gemeinsam zu betrachten?
Mit jeder Menge kleiner Polaroids, von all den Typen (und Typinnen) mit denen es nicht geklappt hat? Könnte vielleicht sogar recht lustig werden...
oder ganz allgemein: "Niederlagen"
Anfang April 06 steht in der SZ:
"Der Sozialwissenschaftler und Publizist Jan Philipp Reemtsma hat einmal beschrieben, was es bedeutet, zu verlieren: "Niederlagen sind unerträglich. Wer mit einem Geschäft bankrott macht, wessen Fuß an der Latte hängen bleibt, wer auf der Bühne ausgepfiffen wird, wer aus dem Ring geprügelt, wird, wem die Frau ausgespannt wird, will bestimmt auch brüllen vor Schmerz...."
(Ach ja, in dem Artikel geht es um Oliver Kahn. Und das jetzt Lehmann bei der WM im Tor stehen wird...)
Ja, all das wird normalerweise ganz vehement weggesperrt. Hier zeigt doch jeder immer nur seine Erfolge... und kehrt dabei die Misserfolge am liebsten unter den Teppich... und fühlt sich irgendwann sehr allein und kraftlos...
Ausblick
VELORITO ist ein Kunstwerk das nur im Tun erfahrbar wird und bei dem sich die klassische Trennung zwischen Akteuren und Publikum idealerweise verwischt. Der Betrachter soll und muss in die künstlerischen Handlungen einbezogen werden damit sich so Kunst und alltägliches Leben miteinander verbinden.
VELORITO ist ein Konzept, ein Reigen von Sichtweisen, Definitionen und Regeln, aus der ich eine mit Bedacht offen angelegte Handlungsanweisung entwickelt habe deren jeweilige Ausprägung stets von den Beteiligten abhängigen sein wird und die explizit nicht an mich als ausführende Person gebunden ist.
VELORITO ist open souce, es greifen dieselben Regeln wie für entsprechende Software: die Arbeit liegt in lesbaren und verständlichen Form vor, darf beliebig kopiert, verbreitet und genutzt werden, und darf verändert und in der veränderten Form weitergegeben werden - wobei ich mich über Rückmeldungen freue.